Die maturidische Theologie und ihre Entstehung
Einfluss Abū Ḥanifas in der Entwicklung der maturidischen Theologie ist nicht weg zu denken. Abū Ḥanifa ist ein Großgelehrter und hochangesehen in Kufa und der Umgebung. Er hatte zahlreiche Studenten, unter ihnen sind unter anderem Abū Yusuf und Muḥammad zu finden. Die beiden Studenten und andere sind mit ihrem Meister muğtahids in der hanafitischen Rechtsschule in Angelegenheiten Fiqhs. Was aber die Theologie betrifft, gibt es neben der hanafitischen Schule verschiedene Richtungen. Sie findet im mittleren Osten nicht die erwartete Anerkennung unter den Gelehrten. Abū Ḥanīfas unparteiische Haltung zu den Auseinandersetzungen zwischen den Gefährten Gesandten trägt dazu bei, dass der Imam als murğiit bezichtigt wird, wodurch sein Ansehen Schaden nimmt.
Als Nordiran von den Muslimen eingenommen wird, konvertieren viele Menschen in den Islam. Das ist für die Gouverneure nicht von Vorteil, denn dadurch entfällt die Kopfsteuer, welche die Nicht-Muslime an den Statthalter zu zahlen haben. Aufgrund dessen, dass nach der aš’aritischen Position die guten Taten zum Glauben gehören, werden die Konvertiten drauf geprüft, ob sie ihre Religion kennen beziehungsweise ein Teil vom Koran beherrschen, um sie als Ungläubige einzustufen oder auch nicht. Emirate, wie die Samaniden, nehmen das nicht weiter hin und lösen sich vom Khalifat. Die hanafitisch-maturidische Position, bei der die guten Taten nicht zum Glauben gehören, findet in diesem Gebiet der Türken den gesuchten Nährboden. Sicher ist, dass die Risala Abu Hanifas durch Abu Muti’ nach Balch gelangte und auch in Transoxanien angekommen war und den Grundstein für die maturidische Theologie legte.
Die Risala Abū Hanīfas an ‘Uṯman al-Battī
- Abū Ḥanīfa lehrte uns: „Muhammad forderte die Menschen zunächst nur auf, den einen Gott zu bezeugen und sich seiner Botschaft zu bekennen. Wer dieser Aufforderung folgte, erwarb den Status des gläubigen. Pflichten wurden den gläubigen erst später offenbart und sind somit Handlungen, die zum eigentlichen Akt der Zustimmung zur Botschaft ergänzend hinzukommen. Wer sie verletzt, geht also nicht des Glaubens selbst verlustig. Hinsichtlich der Ausübung der pflichten unterscheiden sich die Menschen. Der Glaube dagegen ist bei allen Engeln und Menschen gleich. Ohne seinen Glauben zu verlieren, kann der Mensch ungehorsam werden und Fehler begehen, wenn er unwissend oder abirrend ist. Selbst Moses und Jakob haben solche Irrtümer eingestanden. Wenn die Pflichten wirklich zum Glauben gehörten, wie hätte man dann die ersten Anhänger des Islams nennen sollen, bevor ihnen die Pflichten offenbart wurden? Etwa „Ungläubige“ – in Anwendung der harigitischen Doktrin? Oder „weder gläubig noch ungläubig“ – in Anlehnung an die Lehre der Muʽtazila? Außerdem hat selbst ‘Ali noch die von ihm bekämpften Gegner als Gläubige bezeichnet. Einer der beiden Parteien (die jeweils Gläubige blieben) muss – hinsichtlich ‘Utman und ‘Ali – im Irrtum gewesen sein. Zu sagen, welche, überlassen wir Gott. Einen Gläubigen ohne Sünde erwartet das Paradies, einen Ungläubigen […] das Feuer der Hölle. Die Entscheidung über einen gläubigen Sünder liegt beim Gott. ‘Utman und ‘Ali waren beide Gefährten des Propheten und Überlieferer seiner Sunna. Unserer Lehre entspricht die Ansicht vieler bekannter Autoritäten. Beim ersten Bürger krieg handelte es sich um einen Streit zwischen Gefährten des Propheten. Sie alle sind – trotz möglicher Irrtümer – stets gläubige geblieben. Der Name murğiit ist nur eine Erfindung gehässiger Gegner. Tatsächlich treten die so bezeichneten für die Gerechtigkeit ein. Sie sind deswegen ahl al-‘adl wa-ahl as-sunna zu nennen. Erkenntnis ist stets unsere Grundlage. Handlung kann nur eine Folge der Erkenntnis sein und wiegt mangelndes Wissen nie auf. Sich auf eine Überlieferung zu beschränken, reicht nicht aus. Wir müssen selbst erkennen, was richtig/wahr oder was falsch ist. Die Unterscheidung von Wahrem und Falschen ist obligatorisch. Sie muss immer erfolgen, und zwar auf eindeutige Weise. Kritik an den Traditionalisten. Kritik an der Verwendung angeblicher Hadite. Distanzierung von Šiiten, Hariğiten und Murğiiten. Die Erfüllung der Pflichten geschieht in Ausübung des religiösen Gesetzes, ist aber nicht teil des Glaubens selbst. Der Glaube kommt vor den Handlungen; die Religion war bei allen Propheten dieselbe, aber die von ihnen gebrachten religiösen Gesetze unterscheiden sich. Glaube ist Zustimmung, Erkenntnis, Gewissheit, Bekenntnis und Islam. Der Gläubige kann taqiya üben, ohne seines Glaubens verlustig zu gehen. Seine fortwährende Zustimmung mit dem Herzen lässt den glauben bestehen. Wenn ein Gläubiger schwere Sünden begeht, liebt er Gott trotzdem noch immer. Ein Feind Gottes ist nur der Ungläubige. Dass er trotz seiner Gottesliebe sündigt, ist kein Widerspruch an sich. Das menschliche handeln ist oft inkonsequent. Zu dem rechnet der Gläubige Sünder nicht unbedingt mit einer Strafe, sondern hofft auf Gottes Vergebung und darauf, dass er selbst rechtzeitig bereut. Im Übrigen riskiert man auch sonst im Leben oft gefährliche Dinge – immer in der Hoffnung, heil aus der Gefahr herauszukommen.“9